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Zuckerstangen-Socken

Die Corona Neuinfektionen sind im Dezember 2020 so hoch wie nie und mein Körper hat nichts Besseres zu tun, als verrückt zu spielen. Meine Blutwerte sind so mies, das mir meine Ärztin an einem Abend empfiehlt, mich in der Notaufnahme des Krankenhauses zu melden. 
Mache ich auch, 5 Stunden später bin ich wieder zu Hause. Bauchschmerzen ohne Ende, schlechte Werte der Bauchspeicheldrüse und keiner weiß, was es ist. Einige Tage später geh ich freiwillig in stationäre Behandlung, nach mehreren schmerzhaften und schlaflosen Nächten, viel Kopfkino und kurz vor Weihnachten. 

Auf der Station in meinem Zimmer liegt mir schräg gegenüber eine Frau. Als erstes sehe ich von ihr nur weiß-rot gestreifte Weihnachtssocken, sie sehen ein wenig aus wie überdimensionierte Zuckerstangen.
Einige Zeit später bekomme ich auch den Rest von ihr zu sehen. Einen tannengrünen, riesigen Wollpullover, in dem ihr Körper fast

zu verschwinden scheint. Auf der Brust prangt ein Rudolf mit einer roten Bommel-nase. Noch später unterhalten wir uns und

irgendwann bekomme ich ein Telefonat mit. Sie erzählt einem Freund ihre neuesten Ergebnisse und ich höre von Metastasen, 
die langsam von den Organen nach hinten zur Wirbelsäule wachsen. Diagnose Krebs, 
eventuell eine 2. Chemo. 
Sie erzählt mir am Abend von ihrem Palliativteam, welches sie zu Hause schon hat, von einem Hospizplatz, der auf sie wartet,

von ihrem Mann, der bei jedem Telefonat weint und den sie versucht zu trösten, von der 1. Chemo, von Medikamenten.
Sie hat sich entschieden über Weihnachten im Krankenhaus zu bleiben und wird am nächsten Tag auf die Palliativstation verlegt.

Wir verabschieden uns und ich wünsche ihr alles Gute. Eigentlich weiß ich, das es umsonst ist. 

Mich berührt das sehr. Ich denke darüber nach, welchen Stellenwert für sie wohl Corona hat, oder eine Impfung. Was bedeuten ihr die Nachrichten, der Klimawandel, ein neuer US-Präsident? Was hat überhaupt noch Bedeutung, was wünscht man sich in einer

Lebensphase, wenn man weiß, das es die letzte ist?

Nach 3 Tagen werde ich durchgecheckt entlassen. Ich gehe an diesem Wintermorgen mit meinem Gepäck durch den Wald zur Bahn.

Die Sonne leuchtet durch die Bäume, es riecht nach feuchter, kalter Erde, nassen Blättern und Pilzen. Ein Rotkehlchen flattert vorbei,

ein Eichhörnchen hüpft über mir durch die Bäume. 
Ich habe immer noch Schmerzen, aber keine Diagnose und wie ich da so im Wald stehe, laufen mir auf einmal die Tränen. Einfach so,

aus Dankbarkeit. Weil ich hier mitten im Wald stehen kann und das sehen darf, es riechen darf, es fühlen darf. Ich habe keine Diagnose, Weihnachten fällt ins Wasser, nichts hat in diesem Jahr für mich funktioniert, es gibt Covid-19 und mein Körper streikt. 

Aber ich stehe hier an diesem kalten, sonnigen Morgen. Und ich kann nächstes Jahr wieder Weihnachten feiern. Sie nicht.

Bei ihr geht es nicht mehr um nächstes Jahr Weihnachten, bei ihr geht es darum, vielleicht noch einen Frühling zu erleben,

nochmal Bäume blühen zu sehen, laue Frühlingsluft zu atmen - wenn überhaupt.
Das rückt einem den Kopf zurecht. Da draußen regen sich Menschen im Moment darüber auf, das es dieses Jahr keinen Weihnachtsmarkt, Glühwein und Bratwürstchen gibt, oder das sie nicht in den Ski-Urlaub fahren können. Dieses Jahr ist eben ganz anders. Es hat unsere Ängste aufgedeckt. Vor allem eine unserer Urängste: Die Angst vor dem Tod, vor dem Sterben. Unsere Körper sind sehr verletzbar, in einer blöden, kleinen Sekunde kann alles vorbei sein. Und dieses kleine Ding, das wir nicht sehen, riechen, schmecken können, zeigt uns das. Wir lebten bisher in einer sicheren, kriegslosen Welt, na jedenfalls bei uns und fast sicher. 


Aber jetzt spüren wir auf einmal viele Ängste, die Angst vor dem Tod, die Angst vor Ansteckung und Krankheit, vor Geldverlust, die Angst den Job zu verlieren. 2020 hat uns viel davon gezeigt, was wir sonst nicht sehen wollen, vor allem unsere Endlichkeit.
Unsere kleine Welt und unser Körper sind nie sicher, es gibt keine Sicherkeit, außer der die ganz tief in uns zu finden ist. Und auch viele andere Ängste wurden getriggert, Angst vor Machtlosigkeit, Kontrollverlust, Sicherheitsverlust, Unfreiheit. 
Was wird bei dir gerade angetriggert, was sind deine Ängste? Was war schon immer da, aber du wolltest nicht hinschauen? 

Es paßt in diese Zeit, Winterzeit, Dunkelheit, Wintersonnenwende, die Zeit der Wölfe. Es war früher bestimmt eine furchteinflößende Zeit, als man noch nicht einfach die Heizung aufdrehen oder in den Supermarkt gehen konnte. Kälte, Schnee und Eis, wenig zu Essen und nur mit Vorräten aus dem Sommer und Herbst zu überstehen und die ewige Dunkelheit - viele Tage, an denen es kaum hell wurde. 

Das zeigt uns gerade auch unsere Dunkelheit, es ist Zeit nach innen zu gehen. Was ist verborgen in dir? Wie tief ist dein Dunkel?

Was fühlst du und wie fühlst du dich? Ohnmächtig, unfrei, hilflos, wütend, traurig? Was macht dieses Dunkel mit dir?

Im Märchen und im Tarot ist es immer so..., es muß erst ganz dunkel sein, bevor der böse Schurke oder die böse Hexe erledigt werden können. Wenn im Tarot die 10 Schwerter fallen, sieht man auf der Karte einen Mann am Boden in der rabenschwärzesten Dunkelheit.

In seinem Rücken stecken 10 Schwerter und sie durchlöchern seinen roten Mantel, seinen leidenschaftlichen Lebensfluß, seine Lebenskraft. Ein Endpunkt, ein Zyklusende ist erreicht. Schlimmer geht es nicht mehr, dunkler wird es nicht mehr.

Und doch, wenn du du das Märchen weiterliest, können die Kinder, nach dem Tod der bösen Mächte wieder nach Hause oder sie bekommen einen Schatz, eine Belohnung dafür, das sie das Dunkel besiegt haben. Und auf der Karte der 10 Schwertern siehst du,

wenn du genau hinschaust, eine Morgendämmerung am Horizont, ein goldenes Morgenlicht, das aufgeht. 
Irgendwann wird es nicht mehr dunkler. Wenn die tiefste Dunkelheit erreicht ist, geht es wieder in die Helligkeit, ins Licht. Wintersonnenwende: Die dunkelste und längste Nacht, danach fängt langsam, ganz langsam an, das Licht zu siegen. Also nutze die Zeit, um ganz tief in deine Dunkelheit zu gehen, gib den Kampf dagegen auf, schau hin und du gehst direkt in deine Angst, durch deine 10 Schwerter und du gehst genau durch deine größte Angst hindurch. 

Es ist der einzige Weg - es gibt keinen anderen. Es gibt keinen anderen Weg um Durchzugehen, als Durchzugehen. Und dort mitten im Dunkel zündest du dein Streichholz an und selbst dieses kleinste Licht macht alles sichtbar und erhellt deine Schatten.

Mein Dezember war voller Dunkelheit und Angst. Ich habe immer noch Schmerzen, aber ich weiß zumindest, was ich nicht habe. Und so mitten drin wurde es ganz ruhig in mir.  Alles was jetzt hochkommt, laß ich kommen, es darf kommen, denn nur so darf es hinterher gehen, einfach so durch mich hindurch und aus mir heraus.
Und manchmal sehe ich dann ein Bild vor mir. Ein Krankenhausbett, an dessen Ende ein weiß-rotes Zuckerstangen-Sockenpaar herausschaut.